Wir haben unser eigenes planetares Zeitalter geschaffen, das Anthropozän: Die Menschheit ist in wenigen Jahrzehnten zu einem maßgeblichen geologischen Faktor geworden. Wir haben im Namen des Wohlstands alles beschleunigt. Diese Beschleunigung und die Vermehrung und Ausdehnung materieller Güter fordert einen besonnenen Umgang mit der Zeit und mit natürlichen Ressourcen.
Von Feyza Morgül
- Digitalisierungschancen bleiben ungenutzt
- Change Agents und Start-ups
- Unerreichbarkeit und Zeit für Kreativität – der neue Luxus
- Autorin
Fortschreitende Technisierung, wachsender Fortschritt und steigende Produktion brachten immer mehr Menschen schnelleren Zugang zum Konsum, eine nie dagewesene Vielfalt und Auswahl. Die Weltbevölkerung wuchs dabei ebenso wie der Verbrauch an den fossilen Energieträgern Kohle, Erdöl und Erdgas, der weltumspannende Handel und Transport und unsere Mobilität, die globale Vernetzung und die digitale Kommunikation. Sie brachten Veränderungen, ja Umbrüche ins Büro und bis nach Hause. Die Welt ist zu einem Dorf geworden. Wir kommunizieren in Echtzeit, produzieren zeitnah und transportieren „same Day“.
Digitalisierungschancen bleiben ungenutzt
Die Beschleunigung von Informationen und die Digitalisierung können hilfreich sein, um Wege aus der aktuellen Umweltkrise zu finden. Uwe Schneidewind, ehemaliger Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie, sieht in der Digitalisierung den „Motor einer Ökonomie des Teilens“. Doch noch fördert der digitale Raum die Vermehrung von Informationen und Produkten.
Ökologisch gesehen sollte die Wirtschaft eine Pause einlegen. Doch das aktuelle Problem ist: Technologische Entwicklungen und Effizienzsteigerungen bremsen das Wachstum nicht. Höher – schneller – weiter zählt auch im Digitalen. Wer ist denn so weit, seinen persönlichen Konsum drastisch zu reduzieren? Wer teilt, statt zu kaufen, oder tauscht, repariert, recycelt richtig?
Für die Einhaltung der Grenzen unseres Ökosystems müssen wir uns unter anderem auf „Ressourcenleichtigkeit in der Wertschöpfung“ einstellen, so Schneidewind in seinem Buch „Die große Transformation“.
Nach der Klimaforschung stehen jedem Menschen zwei Tonnen CO2 Ausstoß pro Kopf und Jahr zur Verfügung, um das 2-Grad-Ziel einzuhalten. Tatsächlich lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Ausstoß 2017 bei knapp neun Tonnen CO2. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Ressourcen-Verbrauch liegt übrigens bei 30 Tonnen pro Jahr. Erforderlich ist eine Reduktion um den Faktor 4.
Um neue Wege der Wertschöpfung auszuprobieren, sind Prozessgestalter, Change Agents, Wissenschaftler und Unternehmer gleichsam gefragt. Tim Heiler, Design Director der Strategic Design Agentur für Transformative Innovationsprozesse Iconstorm, beschäftigt sich unter anderem mit lernenden Organisationen und Innovationskultur. Er sieht in der technologischen Beschleunigung viel Potential durch lernende Systeme. „Für mich hängt das mit sich bereichernden Netzwerkeffekten zusammen. Ja, Digitalisierung kann ganze Prozesse effektiver und menschenfreundlicher gestalten. Das geht digital, aber betrifft gleichzeitig auch globale Infrastrukturen wie Straßen und Strom et cetera.“ Heiler weiter: „Mit zunehmender Vernetzung und Beschleunigung entsteht ein irres Grundrauschen. Der wesentliche Punkt für Ruhe ist hierbei die Reflexion und Standortbestimmung. Ein Gefühl für die Faktenlage bekommen, adaptiv und responsiv sein zu können.“
Diejenigen Unternehmen, die genau wissen, wo sie stehen und wohin sie gehen können, sind klar im Vorteil: Sie sind anpassungsfähig und reaktionsschneller. Dem Großteil der Wirtschaftsakteure fehlt zurzeit die Echtzeit-Orientierung für eine objektive Standortbestimmung.
Die Beschleunigung zu reduzieren und in planetaren Grenzen zu wirtschaften heißt also, umdenken und anders (ver)handeln. Viele erfolgreiche Start-ups der Tech-Szene nehmen Effizienzstrategien und Suffizienzsteigerungen als Grundlage ihrer Produktangebote und internen Prozesse. Werte wie Bewahren, Re- und Upcyceln, Selbstmachen und Tauschen sind auf dem Weg aus der Nische ins Bewusstsein von immer mehr Menschen. Omas Koch- und Putzklassiker und Opas Handwerkskünste werden reloaded. Hybride Formen der Wertschöpfung werden genutzt. Regional hergestellte Produkte erhalten mehr Aufmerksamkeit und Sharingmodelle unter Nachbarschaftsinitiativen haben sich auch online gut entwickelt.
Unerreichbarkeit und Zeit für Kreativität – der neue Luxus
Das papierlose Büro steht beispielhaft für eine Modernisierung, die mehr als nur Papier einspart. Es spart Raum und Zeit. Katja Röder, Dozentin an der Deutschen POP für Grafik Design und Inhaberin der Frankfurter Design-Agentur unikatwertvoll, arbeitet papierlos. Beschleunigung bedeutet für sie, häufiger verfügbar zu sein. Darum sei es „der neue Luxus, nicht erreichbar zu sein“, erklärt sie schmunzelnd. Sie ist Kommunikationsdesignerin der ersten digitalen Stunden. „Die Digitalisierung hat unseren Beruf stark gewandelt – und natürlich extrem beschleunigt.“ Entwicklungen und Layouts werden digital erstellt und digital per E-Mail abgestimmt. Die Bildersuche findet häufig nur noch online statt. Der ganze Prozess der Druckvorstufe – Reinzeichnung, Bilderretusche bis zur Belichtung der Filme für die Druckplatten – wird nicht mehr in einem Lithostudio, sondern digital und Inhouse in den Agenturen selbst erledigt -in viel weniger Zeit.
Röder sieht das so: „Die Digitalisierung und die dadurch entstandene Beschleunigung sind ein Thema. Aber es ist meine Verantwortung, gemeinsam mit meinen Kunden einen ressourcenschonenden und realistischen Zeitplan zu entwickeln, der genug Raum für den kreativen Prozess lässt. Das kann auch bedeuten, dass mehr Leute in kürzerer Zeit an einem Projekt arbeiten. Und das geht durch die Digitalisierung viel besser als früher – kürzere Wege, Homeoffice etc.“. Eine durch die Digitalisierung beschleunigte Abwicklung sei völlig in Ordnung, aber: „Kreativität braucht eben die Zeit, die sie braucht“, sagt Röder.
Im Zeitalter der Digitalisierung wird Zeit selbst, ebenso wie viele andere Ressourcen, zur verhandelbaren Ware. Eine Beschleunigung der Zeit haben wir Menschen zwar nicht erreicht, doch haben wir mittlerweile sehr viel mehr Ereignisse in eine Stunde gepackt als jemals zuvor. Das zu verstehen, das Maß der Dinge mehr Wert zu schätzen, und entsprechendes Verhalten ist eine zentrale Herausforderung dieses Jahrzehnts.
Feyza Morgül ist Geschäftsführerin von Opera Civil und des Bauernmarktes Frankfurter Marktverein e.V. und publiziert zu Nachhaltigkeitsthemen ([email protected]).