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Der Mix macht’s

Eine Reportage von Carsten Stormer. In Hongkong laufen viele Fäden zusammen. Im Norintra Designcenter arbeiten Menschen aus verschiedenen Ländern an der Mode von morgen.

Annett Koeman, blond, braungebrannt, elegantes Kostüm, sitzt in einem Büro mit Blick auf die Skyline von Hongkong Island. Beste Lage im Stadt-teil Kowloon, One Peking Road, zwölfter Stock. Ein modernes Hochhaus aus Glas und Stahl. Nichts wurde hier dem Zufall überlassen. Der berühmte chinesische Feng-Shui-Meister Yeo hat Gebäude und Büros mitgestaltet. Damit die Energien fließen können und sich alle wohlfühlen. Kreativität, genau darum geht es hier bei Norintra House of Fashion.

Annett Koeman, die Münchnerin, ist umgeben von 25 Kollegen, die meisten Chinesen, aber auch zwei Deutsche und eine Französin. Noch sind nicht alle Mitarbeiter eingetroffen. Die Designer und Trendscouts aus Amerika und England fehlen. Im Raum stehen Schaufensterpuppen, in rosa Seide gehüllt, Kleider aus der neuen Kollektion. Wortfetzen fliegen durch das Zimmer, exotische Farbnamen: Aurora Red, Oyster Grey, White Swan. Auf einem Glastisch stapeln sich Schnittmuster und Kataloge.

»Ja, das Kleid ist atemberaubend«, sagt Samy, die Französin. »Das würde ich auch tragen.« »Nein, ich finde es zu männlich«, meint Angel, die Chinesin. »Das zieht keine Frau an.« »Hmm, dieses Design wäre schön, hätte es nur eine Taille«, wirft Anne ein, die Deutsche. »Zu sehr Seventies, dies braucht mehr Global Chic. Sind die 80er nicht auch wieder im Kommen?«

Annett Koeman sieht zufrieden aus. Ein Brainstorming in ihrer Abteilung ist nicht nur ein fachlicher Austausch. Es ist auch ein Abtasten der Ästhetik des Anderen, eine Annäherung der Kulturen. Ihre Mitarbeiter kommen aus England, Frankreich, Japan, den USA und aus allen Teilen Chinas. Und natürlich sind sie weltweit vernetzt. Gar nicht so einfach, trotz aller kulturellen Unterschiede zusammenzuarbeiten – »allein schon wegen der Zeitzonen«. Mindestens einmal wöchentlich treffen sich internationale Designer und Trendscouts, um über die neuesten Trends, Modestile, Materialien und Technologien zu sprechen. Allerspätestens, wenn irgendjemand eine bahnbrechende Kollektion herausbringt. »Aber wir arbeiten eigentlich darauf hin, dass wir diejenigen mit den atemberaubenden Kollektionen sind.«

Norintra House of Fashion ist das erste Designcenter der außerhalb Deutschlands. Direktorin Annett Koeman lebt seit 20 Jahren in Hongkong. Sie hat schon für Hugo Boss, Levi’s und Otto gearbeitet. Seit dem 1. März 2007 leitet sie das Norintra-Designcenter in Hongkong, eine hundert-prozentige Tochterfirma der Arcandor AG. Hier wird Mode für den deutschen Markt designt, für Karstadt Warenhaus, Quelle oder Neckermann. Das Design-center soll die Eigenmarken des Unternehmens zu echten Marken entwickeln. Das heißt, dass für alle Eigenmarken eine eigene Handschrift gefunden werden soll, ein Erkennungsmerkmal. Mode, mit der sich die Kundschaft identifiziert. »Wir wollen nicht, dass die deutschen Kundinnen zu Zara oder H&M um die Ecke gehen, um Trends zu entdecken, sondern wir wollen, dass sie zu Karstadt gehen, weil wir die tollen Marken haben.« Annett Koeman blickt aus dem Fenster, die Skyline ist von Smog und Regenwolken verschluckt. Sie überlegt. »Premium Label hört sich doch viel besser an als Eigenmarken!«

Gut ausgebildete, hoch motivierte Mitarbeiter. »Die müssen sie nach Hause schicken, freiwillig geht von denen keiner.«

Hongkong ist für Annett Koeman der ideale ModeStandort. »Schauen Sie sich doch nur die vielen verschiedenen Kulturen an, die hier zusammenarbeiten. Jeder bringt das Beste mit, Ausbildung, Erfahrung und das Gespür, am Puls der Zeit zu sein – und jeder lernt von jedem.« So wie Gai Me Wong, die von allen nur Angel gerufen wird, weil sie so ein »gutes Händchen und Auge« hat. Vor kurzem gewann sie den Young Fashion Award, einen Preis als beste Nachwuchsdesignerin. Oder ihre Kollegin Pui San, genannt Mike, die nur drei Stunden pro Nacht schläft und in Schnittmustern denkt. Oder die Französin, die von allen nur Samy gerufen wird, die vor zwei Jahren aus Paris nach Hongkong kam und sich ein Leben in Europa kaum noch vorstellen kann, »weil zu Hause alles ein bisschen langsamer vorwärtsgeht. Wenn überhaupt.«

Hier, am Südchinesischen Meer geht alles ein bisschen schneller. Und, »es gibt nicht so viele Hindernisse zu überwinden, um etwas Neues aus dem Boden zu stampfen«, sagt Annett Koeman. »Wie eben dieses Designcenter.« Ihre Abteilung sei hoch motiviert, lobt sie. »Ich habe hervorragend ausgebildete Leute. Die müssen Sie nach Hause schicken, freiwillig geht von denen keiner.«

Was einen guten Designer ausmacht? »Er sollte Visionen und den Mut besitzen, das zu tun, woran er glaubt. Obwohl Entwerfen eine sehr persönliche Angelegenheit ist, muss er kommunikativ sein und sich vernetzen können.« Aber er dürfe sich nicht ausschließlich selbst verwirklichen wollen, weil die Produkte zur Marke und jeweiligen Zielgruppe passen müssen.

Angel und Mike, so wie ihre Kollegen, arbeiten Schnittmuster aus und trinken literweise grünen Tee. Wenn die Belegschaft hungrig ist, geht jemand auf die Straße und kauft in einer Garküche Nudeln, Wan Tans oder Suppe. Hauptsache, man verschwendet keine Zeit. »Wer in der Modebranche Zeit vertrödelt, verschläft die Trends«, sagt Mike und grinst. Ein junger Mann im Ninja-Look, schwarzes Outfit, Rastalocken, Stirnband, platzt in das Besprechungszimmer. Er ist außer Atem. Mit knapper Not konnte er seinen Abgabetermin einhalten. Seit Tagen hing er über Jeanstaschen und schlug sich die Nächte um die Ohren, welche Naht auf welche Tasche passt.

Was im Design spielerisch und leicht wirkt, ist in Wirklichkeit harte Arbeit, auf konkrete Ziele gerichtet.

Was im Norintra-Designcenter nach Spaß und Leichtigkeit aussieht, ist harte Arbeit, auf ein Ziel ausgerichtet: dem strategischen Auf- und Ausbau der Arcandor-Eigenmarken, um mit konkurrierenden Labels mithalten zu können – oder sie zu übertreffen. Diese Konzepte zu entwickeln, das ist Annett Koemans Aufgabe. Denn: »Markengestaltung ist nicht nur eine Designfrage, sondern auch eine Frage nach der Identitätsbildung. Eine Marke ist kein leeres Wertversprechen. Aus Kundensicht wird es künftig nicht mehr nur darum gehen, Kleidung zu kaufen, sondern sie von Brands oder einem Premium Label zu kaufen, die für etwas stehen.« Weil Identität auch von Marken abhängig ist. »Marken versprechen Prestige und transportieren Lifestyle.« Kreative Vielfalt ist zum Wettbewerbsfaktor geworden. Ständig muss man neuen Trends auf den Fersen sein: Öko oder moralischer Konsum. Für global agierende Unternehmen wird kulturelle Vielfalt immer wichtiger. »Denn Mitarbeiter und Kunden mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund muss man ansprechen und einbinden.«

Über Design oder Geschmack lässt sich nicht objektiv urteilen, sagt Annett Koeman. Weil es meistens eine emotionale Entscheidung ist. Mode ist ein ernst zu nehmendes Thema – sie kann »cool, sexy und trendy sein, aber nicht inhaltsleer«. So wird gerade an einer Ökokollektion für die breite Masse gearbeitet. Ein ehrgeiziges Projekt: eine Kollektion aus Biobaumwolle und zu Fair-Trade-Bedingungen. Aber »gutes Design und soziales Gewissen lassen sich gut miteinander verbinden«. Dabei hilft die kulturelle Vielfalt im Norintra-Designcenter. Sie birgt neue Ideen, Anregungen, um dieses Ziel zu erreichen, »weil jeder etwas Besonderes aus seinem Kulturkreis mitbringt«. Kulturelle Vielfalt erhöht Kreativität, Innovation und Kundenorientierung. Und ein gutes Arbeitsklima trägt natürlich auch zum wirtschaftlichen Erfolg bei.

Deshalb arbeiten Annett Koemans Mitarbeiter in diesem Umfeld. Schönes, modernes Büro, im Fernsehen läuft Fashion TV oder MTV, neben der Espressomaschine liegen Modezeitschriften. In kleinen Gruppen besuchen sie Ausstellungen oder sehen sich Filme an. »Wir bieten regelmäßige interne Schulungen und Informationen zu unterschiedlichen Themen an, zum Beispiel Neuentwicklungen bei Stoffen.«

Die bunte Mischung kultureller Einflüsse inspiriert. In der Stadt genauso wie im Designcenter.

Auf Angel Wongs Schreibtisch stapeln sich Modezeitschriften – ELLE, Cosmopolitan, Vanity Fair; Magazine in deutscher, englischer oder französischer Sprache. »Wir haben Amerikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche und selbstverständlich auch Asiaten aus Hongkong, Mainland China, Taiwan und Malaysia als Kollegen«, sagt sie. Je mehr Designer aus verschiedenen Kulturen zusammenarbeiten, desto besser: »Jeder hat eine andere Vorstellung von Ästhetik, jeder bringt etwas sehr Persönliches mit, seine Geschichte, seine Wertvorstellungen, seine Idee von Schönheit.«

Jeder darf seine Akzente setzen, aber entscheidend sei: Keiner dominiert die anderen. »Die Mischung ist das Wichtige«, erklärt die junge Designerin aus Hongkong. Angel Wong zeigt ein tailliertes Abendkleid, bestickt mit Perlen. Französischer Chic kombiniert mit asiatischer Eleganz, amerikanische Lockerheit gepaart mit deutscher Strenge. »Das alles in einen Topf und fertig ist das Norintra Fashion Menü!«, sagt ihre Chefin Annett Koeman. »Der Mix macht’s.« Denn gutes Design verbindet globale und lokale Aspekte. »Wenn ich heute etwas kaufe, möchte ich toll aussehen, wenn ich das Stück trage, will mich darin wohlfühlen und will es auch nach dem Waschen noch mögen.«

Im Hintergrund läuft auf einem Bildschirm Fashion TV. Internationale Models präsentieren in Rom Gewänder, die an indische Saris erinnern. Doch was Naomi Campbell oder Giselle Bündchen auf den Leib geschneidert bekommen, ist nicht unbedingt das, was sich auch verkaufen lässt. Wie also prägen die Mitarbeiter von Norintra ihren eigenen Stil aus tausend Stilen, der auch noch den Geschmack deutscher Frauen trifft? »Wir orientieren uns daran, was international gefragt ist«, sagt Annett Koeman. Ihre Design- und Modescouts tummeln sich auf den großen Modeschauen und Messen, spüren Trends auf, die sich wenige Wochen später im Katalog wiederfinden. »Unsere Leute sind auf der Höhe der Designer in New York oder London. Dafür sorgen unsere engen Kontakte mit Trendscouts und Designern in diesen Metropolen.«

Glasperlen, Seide und Spitze

Wenn sie von ihren Mitarbeitern redet, gerät Annett Koeman ins Schwärmen. Begeistert erzählt sie von den vielen Meetings, in denen gekämpft und diskutiert werde. »Jeder legt irgendwas auf den Tisch, je mehr Augen da sind, um zu bewerten, desto besser.« Und manchmal laufen Chefin und Angestellte sogar gemeinsam durch Hongkongs Straßen, auf der Suche nach neuen Ideen und Anregungen, um den Geist zu erfrischen und die Kreativität zu beflügeln. »Angel, hast du Lust, mitzukommen?« Die beiden Frauen verlassen das klimatisierte Designcenter. Draußen schlägt ihnen das andere China entgegen, mit seiner Schwüle, dem Smog, den Essensdüften und Menschenmassen. Zwei Stunden spazieren die beiden Modespezialistinnen durch Hongkong, begutachten Farbmuster, Glasperlen, Seide und Spitze. Im Stadtteil Sham Shui Po reiht sich ein Stoffgeschäft an das nächste, Accessoireverkäufer buhlen um Kundschaft. »Hier, diese Pailletten könnten doch wunderbar an einem deiner Kleider aussehen, was meinst du?« Sie sind so versunken in ihrer eigenen Welt, dass sie die Menschenmassen um sie herum gar nicht wahrnehmen. Die große Blonde und die kleine Dunkelhaarige, die gemeinsam kichern, wenn sie ein hässliches Stück Stoff sehen, über schlechte Qualität lästern und mit großen Augen auf schimmernde Seide starren. Sie wirken wie zwei kleine Mädchen, die zum ersten Mal in diese bunte, glitzernde Welt eintauchen. Erst als es zu regnen beginnt, erwachen sie aus ihrem Traum, setzen sich in ein Taxi und fahren zurück ins Designcenter –glücklich und inspiriert. Es ist sechs Uhr abends, und der Arbeitstag noch nicht zu Ende.

Der Wert der Vielfalt: Im Designcenter hat jeder eine andere Vorstellung von Mode, bringt seine Geschichte mit, seine Werte, seine Idee von Schönheit.

Angel Wong sei »ein Ausnahmetalent, ein Juwel«, sagt Annett Koeman, sie habe das »One in a million «-Syndrom. Eine aus einer Million. Denn in Sachen kreativer Ausbildung hängt Hongkong der Weltelite immer noch hinterher. »Die meisten unserer Designer stammen zwar aus Hongkong, Schanghai oder Taiwan, sind aber über viele Jahre im Ausland, bei namhaften Designern, ausgebildet worden. In England oder den USA, weil es in Hongkong noch keine vergleichbare Ausbildung gab. Das sind klasse Leute, die alles über Mode wissen.« Sie orientieren sich an Vorbildern wie Tom Ford, Vivienne Westwood oder Karl Lagerfeld. Oder an erfolgreichen Modelabels wie H&M oder Zara. Damit Profis heranwachsen können, unterstützt Norintra die Polytechnische Universität für Design in Hongkong mit gemeinsamen Workshops oder Praktikantenstellen. So lassen sich zugleich die besten Leute binden.

Am Abend streift Annett Koeman noch einmal durch die kleinen Boutiquen von SoHo und Sham Shui Po, Hongkongs In-Viertel mit Bars, aus denen leise Musik dringt. Es riecht nach Meer und Nudelsuppe. Autos und Taxis quetschen sich durch die engen Straßen, feuern ihre Hupen ab. Zwischen Moderne und Verfall hocken alte Chinesen mit langen, weißen Bärten und rauchen Pfeife. Ausländer in Designeranzügen hetzen durch die Gassen. »Das ist das Honkong, das ich liebe. Wo sich das alte mit dem neuen Asien vermischt. « Hier kann sie abschalten, lässt sich inspirieren. Von einem Rock im Schaufenster, dem Schnitt einer Bluse, Accessoires. Die meisten Besitzer kennt sie mit Namen. Vor einer Boutique mit dem Namen »Eccentricate« bleibt sie stehen. Drinnen steht ein Nachwuchsdesigner, Anfang 20. Er begrüßt Annett Koeman mit Küsschen. Und unterhält sich über die neuesten Trends aus Mailand, New York und London. »Ich habe gehört, dass in London bei Männern jetzt kurze Hosen und Sandalen in sind«, erzählt Annett Koeman kopfschüttelnd. »Das muss ja schrecklich aussehen«, sagt Kevin, der Designer.

Alte Chinesen mit langen,weißen Bärten rauchen Pfeife, Ausländer in Designeranzügen hasten vorbei. »Das ist das Hongkong, das ich liebe: Wo sich das alte mit dem neuen Asien vermischt.«

Der Stau in den Straßen hat sich aufgelöst. Auch für Annett Koeman geht der Tag zu Ende. Morgen warten wieder unzählige Meetings und neue Projekte auf sie. Wie schafft man es eigentlich, jeden Tag aufs Neue kreativ zu sein? »Eigentlich ganz einfach«, sagt sie. »Ich liebe diesen Beruf. Ich möchte nichts anderes machen. Das ist Motivation genug.« Dann steigt sie in ein Taxi.
Feierabend.

Foto: Chic aussehen, gut dastehen. Norintra entwickelt eine Ökokollektion. Nicht nur für Betuchte, sondern für die Masse. Dazu gehört eine Kollektion aus Biobaumwolle zu Fair-Trade-Bedingungen. (Rainer Kwiotek – Arcandor AG)


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